Das verflixt schöne Leben


7 Großmutter

Es gibt Spielzeug Flugzeuge, die haben als Motor ein Gummiband, das kann man aufziehen. Läßt man das dann los, schnurrt der Propeller und das Flugzeug fliegt davon.
Ein junger Mann, wenn er eingezäunt hinter Stacheldraht aufwächst und diesen ständig vor Augen hat, wenn er auch noch einen starken Lebenswillen besitzt, dann entsteht in ihm aus Sehnsucht und Fernweh Energie. Peu à peu nimmt diese zu und lädt ihn auf. Er muß über die Umzäunung oder sein Gummiband zerreißt.
So aufgeladen komme ich mir vor. Vor vielen Jahren hat mein Gummiband angefangen sich erst leicht und später immer stärker aufzuziehen, aufzuziehen und aufzuziehen. Im Knast spannte es sich beinahe bis an die Zerreißgrenze … … und jetzt ist mein Propeller frei, ich kann fliegen, fliegen, fliegen!
Am Sonntag fahren wir gemeinsam nach München. Die Entfernungen sind ganz anders. Von Erlangen nach München ist nur ein kleines Stück durch Bayern, die gleiche Entfernung von Eisenach bis Dresden, war im Osten fast quer durch. Damals mit meinem LKW hin und zurück eine anstrengende Tagestour. Hier sind wir je zwei Stunden unterwegs. Die Autobahn in Franken, oft schnurgerade, führt durch sanft. hügelige Landschaft. Um Nürnberg der Reichswald ist kein echter Wald, es sind dicht an dicht bepflanzte Kiefern. Ich würde es eher Plantage anstatt Wald nennen. Südlicher dann rechts und links abgeerntete Getreide Felder. Ab Ingolstadt stehen auf den Feldern die leeren Stangen der abgeernteten Hopfenfelder. Es riecht nach Herbst und nach Hopfen. Das ist die Hallertau, das größte Hopfenanbaugebiet der Welt erklärt uns Friedolin. Dann plötzlich kurz vor München, nach einer Bergkuppe sind die Alpen zu sehen, umwerfend, kolossal, einfach riesig, weiße Bergspitzen mit Schnee am ganzen Horizont entlang. In München am Ende der Autobahn steht auf einem hohen Steinsockel im Mittelstreifen ein Bär aus Bronze. Es soll die Verbundenheit zu Berlin darstellen. In Schwabing kommen wir unmittelbar am Olympiazentrum vorbei. Die riesigen Säulen an denen das Glasdach aufgehängt ist, reichen sogar quer über unsere Straße. Wir sind auf dem Mittleren Ring. Großmutter lebt in einem Hochhaus auf der Theresienhöhe. Wir fahren mit dem Lift in den 17. Stock . Auf dem Flur sehen wir in der Wand eine Klappe.
„Das ist ein Müllschlucker. Da wirft man seinen Müll hinein, der landet im Keller in der Tonne.“ Ihr Appartement ist sehr klein, aber sehr vornehm und hat einen Balkon mit Blick auf die Berge und direkt davor auf eine riesige Fläche voller Karussells und Bierzelte.
„Das ist die Wiesn, das Oktoberfest.“ erklärt sie uns. Es ist voller Menschen und ab und zu schallt Blasmusik zu uns herauf. Großmutter hat den Tisch gedeckt. Es ist wirklich alles sehr klein, wir kommen kaum am Tisch vorbei aufs Sofa. Feines zartes Geschirr, die Tischdecke mit Ornamenten und Großmutter in heller Seidenbluse und ihrem langen, bis kurz über die Knöchel reichenden Rock. Wir haben reichlich Kuchen mitgebracht. Friedolin kennt sich aus und schlägt in der Küche noch Sahne. Ich schaue mich um, bin auf dem Balkon und genieße den weiten Blick über die Stadt und den tollen Blick auf die Alpen. Auf einem kleinen Tischchen neben dem Sofa steht das Bild ihres gefallenen Sohnes Ernst. Ich erkenne es sofort. Dieser melancholische Blick, er sieht unserer Mutter sehr ähnlich. Sie hatte dieses Bild auch bei sich am Sekretär stehen. Großmutter sieht meinen Blick und sagt:
„Er wäre nächste Woche 58 Jahre alt geworden.“
Daneben steht noch ein Bild, auf dem sie neben ihm auf einer großen Wiese steht. Sie ist darauf eine große hagere sehr ernste Frau. Unsere Mutter hat erzählt, Großmutter ist noch rechtzeitig vor der Mauer nach Velbert gegangen und hat dort als Arzthelferin in der Praxis ihres Schwiegersohnes gearbeitet. Da der sie nicht richtig angemeldet hatte, bekommt sie jetzt nur eine kleine Rente und muß jeden Pfennig zweimal umdrehen. Für die Besuche bei uns in Eisenach würde sie immer lange sparen. Wie ich sie so in der Küche stehen sehe, den Kaffee im Filter nachschütten und sich mit der Hand am Tisch abstützen, wird mir bewußt, welch ein entbehrungsreiches Leben sie hat. Zwei Weltkriege und dann Witwe mit kleinen Kindern in der Nachkriegszeit. Dagegen wirkt mein Knast schon weniger schwer zu ertragen.
Wir erzählen viel, wie es uns in Erlangen geht. Über den Knast reden wir nicht. Auch keine lustigen Anekdoten. Wir fragen Großmutter nach unserer Verwandtschaft. Wo wohnen die Schwestern unsere Mutter, was gibt es für Cousinen und Cousins.
Sie erzählt von ihren großen Töchtern Jutta und Renate, die wohnen in Kalifornien, San Diego, haben zwei Töchter. Hier gibt es Ina, das ist die Schwester, mit der unsere Mutter zusammen aufwuchs. Sie lebt hier in der Nähe, in Murnau und hat eine Tochter, die arbeitet in einem Optikergeschäft in Schwabing. Ich schreibe mir die Telefonnummer auf. Ina, hätte ich als kleines Kind besucht, sie lebte damals in Cuxhaven.
Großmutter ist über 80 Jahre alt, wir sehen, sie ist müde. Wir räumen noch den Tisch ab und verabschieden uns. Ich verspreche ihr, ich komme bald für immer nach München und dann gehe ich für sie einkaufen. Auf dem Heimweg reise ich innerlich schon nach Kalifornien und besuche meine Tante. Dieser Krieg hat die Welt nicht nur zerteilt sondern auch Familien, wie nach einem Granateneinschlag zerstreut.