Ein verflixt schöne Leben
5 Erlangen
Mein Aufwachen ist immer noch nicht selbstverständlich normal. Mit dem Öffnen meiner Augen, indem ich anfange, meine Umgebung wahrzunehmen, erwarte ich, die mir gewohnte Zelle zu sehen, die ist aber weg.
Freude: mein morgendlicher Freudenschub.
Ich bin nicht mehr in der Zelle und jetzt geht es auch nicht zum Heraustreten, zur Zählung und dem Abmarsch zur Arbeit.
Maximilian ist schon auf, vor mir auf dem Sofatisch steht eine Tasse Kaffee. Ich muß mich nur aufsetzen. In meiner Freude ist auch Wehmut, Schmerz und Trauer, ich kann die Freude nicht ganz annehmen.
Es fehlt jemand und ich fühle mich bevorteilt.
Wir haben viele Haftkameraden zurückgelassen, sie sind noch im Trott zwischen morgendlichem Heraustreten zur Arbeit, bis zur Zählung und Einschluß zur Nacht - aber sie werden es schon schaffen, sie kommen nach.
Wir haben viele Freunde zurückgelassen, die kommen nicht, die müssen drüben bleiben. Sie hätten auch den schweren Weg durch den Knast gehen können. Sind sie nicht.
Hätten ich nicht bleiben und mich gegen die Diktatur stellen müssen? Ja, vielleicht hätte ich das, aber es sah aussichtslos aus. Ich wäre nur noch länger im Knast gelandet und nichts hätte sich geändert. Auszureisen, sogar Knast in Kauf zu nehmen, hat auf die Zurückgebliebenen auch eine starke Wirkung. Ich kann von außen zeigen, wie schön das Leben sein kann, wenn man sich zur Wehr setzt.
Trotzdem habe ich in meiner Freude einen Wermutstropfen.
Es gibt da jemanden, Renate. Zum Zeitpunkt meiner Flucht waren wir nicht zusammen, sie hatte eine Beziehung, lebte in Ostberlin. Aber wir waren eine Jugendliebe, sogar kurz verlobt, danach viele Jahre immer irgendwie verbunden. Im Knast darf man nur Briefe von der Familie erhalten und die dürfen nur eine DIN-A4 Seite lang sein. Als Schwester getarnt hatte sie mir einen langen, eng beschrieben Brief, geschrieben.
Ich spüre ihr gegenüber große Verantwortung.
Feste Fäden verbinden mich mit meiner Vergangenheit.
Maximilian sieht meinen nachdenklichen Blick.
„Was ist? Probleme?“
„Das Leben hier ist einerseits wie drüben und andererseits so völlig verschieden, die Menschen sind ganz anders, offener, selbstbewußter, angstfreier. Daß wir jetzt hier sind haben wir uns hart erkämpft! Aber hätten wir nicht bleiben müssen, um gegen den Scheiß zu kämpfen?“
„Ist schon richtig, wir waren es, die das Unrecht erkannt haben aber gegen die Stasi kommst du nicht an. Denen ist es egal, ob da Tausende oder sogar Zehntausende im Knast sind. Es hätte nur unser Leben zerstört.
„Vielleicht hast du damit Recht. Für wen hätten wir gekämpft? Meine Klassenkameraden waren alle Duckmäuser, sie haben nicht mal darüber nachgedacht, sondern alles blind nachgeplappert, und wenn ich dann gefragt habe, wieso beim Friedenswall die Minen innen liegen - geschwiegen haben sie. Sie wollten nur ihre gute Zensur. Weiter reichte ihr Horizont nicht.“
„Du hast den Mund aufgemacht und dir damit die Zulassung zum Abitur versaut. Die sind noch lange nicht reif, sich gegen die Diktatur zu erheben.“
„Wir müssen kein schlechtes Gewissen haben.“
Seit wir über die Grenze sind, ist in meinem Kopf wieder Raum für Erinnerungen. Im Knast habe ich nicht nach hinten geschaut, ich habe nach vorne geträumt, in die Welt von Alexis Sorbas oder Thor Heyerdahls „Rah II“.
Als ich die Armeezeit absolviert hatte und wieder daheim in Eisenach war, lebte ich wie unter einem dunklen Schatten. Es war nicht mein Leben, es fühle sich nicht real an, ich war nicht Ich.
Ich ging abends von 17:00 Uhr bis 21:00 Uhr in die Abendschule, das Abi auf dem zweiten Bildungsweg, und früh um 3:00 Uhr bis um 9:00 Uhr zur Molkerei, war dort Expedient auf der Rampe, Milch ausgeben. Nach der Abendschule und nach der Arbeit ging ich immer sofort ins Bett. Wenn man mich weckte, wußte ich nicht, muß ich jetzt zur Schule oder zur Arbeit. Ich war einfach immer müde.
Ich hatte mir vorgenommen, ich würde auf Maximilian warten, auf seinen 18. Geburtstag, damit wir dann losgehen können. Auf diesen Geburtstag hin lebte ich in einem Wartezustand, wartete darauf loszugehen, damit dann das Leben anfängt. Aber ich sah von Maximilians Leben nichts, außer daß er das alte Moped, die alte rote „Jawa 05“ vom Vater, in ihre Einzelteile zerlegte, reparierte, wieder zusammensetzte und damit im Garten herumkurvte.
Jetzt war er auf einmal so groß. Vor meiner Armeezeit, damals als LKW-Fahrer, kam er ein paar mal mit auf Tour. Zum Beispiel nach Dresden, dort bei einem Zulieferbetrieb für das Eisenacher Wartburg Automobilwerk Türschlösser abholen. Wir hatten Spaß, das gemeinsame unterwegs sein, reden konnten wir wegen des Motorenlärms schlecht. Er hatte ständig Hunger, wir fuhren von Raststätte zu Raststätte. An der Raststätte Teufelstal, das war ein ganz einfacher Parkplatz, nicht mal ein WC gab es, aber am Rand stand eine kleine Bude, dort gab es Bockwurst mit Brötchen für 90 Pfennig. Natürlich aßen wir jeder zwei davon. Sie waren sehr kurz und die Brötchen klein und hart, geschmeckt haben sie sehr lecker.
Mir ist damals nicht aufgefallen, daß es bereits in Eisenach bei den Eltern für ihn kein Familienleben mehr gab und er daheim alleine war.
Ich trinke meinen Kaffee aus, nehme eine kurze kalte Dusche, ziehe das schöne Hemd von Friedolin an und sage, mit Blick auf meine Schuhe:
„Wir müssen uns Klamotten kaufen und besonders Schuhe.“
Mir fällt ein, wir müssen uns wieder allein ums Essen kümmern.
„Was hältst du davon, wenn ich heute Abend koche?“ frage ich, „wir laden Friedolin und Adele ein.“
„Und was kochst du?“
„Na, ich kann Koteletts braten, dazu mache ich Kartoffelbrei und im Selbstbedienungsladen hatten sie Büchsen mit Erbsen. Dann noch ein paar Flaschen Bier.“
„Woher kannst du Kotelett braten?“ fragt mich Maximilian.
„Das hat mir Vater gezeigt, die muß man mit Senf bestreichen und dann kurz anbraten, wenden und warten, bis sie durch sind.“
„Dann laß besser mich das machen. Als du bei der Armee, Friedolin im Knast und unsere Schwester im Diakonissenhaus war, Mutter saß nur apathisch in der Ecke, da mußte ich kochen lernen, sonst wäre ich verhungert. Also, geh’ du anrufen und einkaufen, bring auch Zwiebeln mit, Kartoffeln und wenn sie haben, auch Tomaten. Gestern jedenfalls hatten sie Tomaten.“
Ich gehe telefonieren, Onkel Gerhard anrufen.
Gerhard ist ein ruhiger Mann, raucht Gold Dollar ohne Filter, trägt immer eine Jacke aus Wolle oder Loden mit Hornknöpfen, dazu Bundhosen und Wanderschuhe. Er kannte sich in Eisenach und Umgebung gut aus, war dort vor dem Krieg, ein Zeitlang zur Schule gegangen. Wenn er auf Besuch da war, nahm er uns in seinem Westauto mit hoch auf die Hörselberge, wandern. Er kannte viele Pflanzen, auch mit ihrem lateinischen Namen und wenn er mal von einer Pflanze den Namen nicht wußte, dann veralberte er uns und nannte sie:
„Flora miregalist“, das hat er so betont, daß es sich wie Latein anhörte.
Ich frage ihn nach seiner Schwester, meiner Tante Li, ob sie noch in oder bei Frankfurt wohnt, ob er mir die Telefonnummer geben könnte. Dann frage ich auch nach der Nummer seines Bruders Henner, meinem ganz tollen Patenonkel.
Tante Li studierte, wurde Juristin, verheiratet seit den Studienzeiten mit Gerd, auch ein Jurist. Sie waren öfter zu Ostern oder Pfingsten in Eisenach. So jemanden wie Tante Li sah man in Eisenach nur zu Ostern und Pfingsten, wenn Westbesuche da waren. Sie war überaus elegant, eine richtige Dame, lackierte Fingernägel, Lippenstift, ein Seidentuch um den Hals und immer Schuhe mit hohen Absätzen. Gerd war legerer, fühlte sich als Künstler, fertigte aus Figuren die aussahen, als ob man einen Schattenschnitt aufgeklappt hätte, große Collagen an. Gerd hatte in seinem Koffer, neben Schokolade, auch immer Wein dabei. In der Türverkleidung seines Autos schmuggelte er für uns die neuesten Zeitungen und Bücher.
Meine Tante Li ist auch sofort am Telefon, hat schon durch Gerhard gehört, wir seien endlich wieder frei. Natürlich würde sie sich freuen, wenn wir sie besuchen. Wir vereinbaren, das kommende Wochenende, zu ihnen nach Amorbach, dort in ihr Häuschen ihr Ferien- und Wochenenddomizil, zu kommen.
Dann rufe ich auch gleich meinen Patenonkel Henner an.
Große Freude, nein, er habe es noch nicht gewußt, zu Gerhard habe er (das sei eine lange Geschichte) keinen Kontakt mehr. Wir sollen unbedingt zu ihm nach Kassel kommen.
Dann gehe ich in den Selbstbedienungsladen, der hier Supermarkt heißt. Schon seine Größe ist ein Vielfaches dessen, was in Eisenach eine Kaufhalle ist. Auch riecht es anders. Am Eingang Obst und Gemüse. Das ist mir alles zu viel, das meiste kenne ich nicht. Tatsächlich, sie haben Tomaten. Neben den Tomaten steht ein Ständer mit Papiertüten zum Abreißen. Ich nehme mir eine, suche ein paar Tomaten zusammen und stecke alles in die Tüte.
Was hat er gesagt? Ach ja, Zwiebeln und Kartoffeln, da gibt es nur jeweils ein ganzes Netz. Und dann suche ich das Bier. Da stehen mehrere Biere verschiedener Brauereien. In Eisenach gab es nur eine Brauerei, die hat den ganzen Landkreis versorgt. Gestern bei Sulla stand am Tresen „Tucher“ aus Nürnberg. Ich nehme mal für jeden zwei Flaschen. An der Kasse ist es mir ungewohnt, mit Westgeld für Dinge des täglichen Bedarfs zu bezahlen. Westgeld war doch heilig und nur für den Intershop oder als kleines Trinkgeld an einen Handwerker. Ich bekomme sogar eine Plastiktüte geschenkt. Auf dem Heimweg an der Ecke in der Metzgerei, hole ich noch vier dicke Koteletts.
„Gut durchwachsen, bitte nicht zu mager“, sage ich, als die Bedienung das Fett an den Rändern wegschneiden wollte. Sie schaut mich fragend an.
„Doch!“, sage ich, „da ist doch der Geschmack drin.“ Dann läßt sie es dran und packt sie mir ein.
Zuhause sitzt auch Friedolin. „Ich wollte euch für die nächste Zeit den Käfer überlassen. Damit seid ihr erst einmal mobil, ich brauche ihn nicht.“ Er kramt vom Schreibtisch aus einem Stapel Papiere, den KFZ-Schein hervor und legt ihn sichtbar für uns obenauf, zieht aus der Hosentasche den Autoschlüssel und legt ihn daneben.
„Hier die Papiere und der Schlüssel und mit dem Essen heute Abend geht klar“. Er schaut prüfend aus dem Fenster.
„Jetzt machen wir einen Ausflug, ich zeige euch mal die Umgebung – Erlangen von Oben auf nach Marloffstein“.
Auch gut, denke ich mir, denn Schuhkaufen geht nicht, wir haben nur den Rest vom Begrüßungsgeld.