Andorra II Ein verflixt schöne Leben


25 Stammhirn


Unsere Theatergruppe wurde gegründet. Wir nennen uns „Zwischenspieltheater“, weil es ein Intermezzo ist zwischen Studium und einer späteren noch nicht abzusehenden Entwicklung. Erfahrungen sammeln, sich ausprobieren und nicht gebunden sein an die Studiobühne der Uni. Direkt nach den Sommer Semesterferien soll es losgehen. Ich habe auch schon eine Idee. Andorra von Max Frisch. Das ist eine verdrehte Handlung. Die Hauptperson hat keine Aktion, sie ergibt keinen Sinn, außer durch ihre Anwesenheit. Vor mir auf meinem Schreibtisch liegen die Blätter aus Marina di Pisa. Mein Gedicht über das Meer habe ich mehrfach geändert. Es hakt, ist irgendwie nicht rund, ich lege es wieder weg. Wenn es nicht will, keine Inspiration, kein Wohlfühlen, keine Musik, liegt es am Ort! Das hier ist einfach kein „Zu Hause“. Ich muß umziehen. Es klingelt. Es ist meine Nachbarin von Gegenüber, die mit dem Kind auf dem Arm. Sie hat sich chic gemacht, trägt ein blumiges Kleid. „Bitte komm doch herein nimm Platz“, und ich zeige auf meinen Schreibtischstuhl. Sie setzt sich, um sofort wieder aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Ich setze mich auf mein Bett. Sie hat kurze blonde Haare, ist schlank und groß. Sie schaut mich fest an und sagt:
„Ich habe eine Bitte“, und zieht sich dabei die Schuhe aus, „kannst du mit mir auch machen, was du vor ein paar Tagen mit dieser Frau gemacht hast?“ Und sie zeigt auf mich und mein Bett. Ich bin perplex und stehe wieder auf.
„Ich habe euch gesehen, das Fenster stand auf und die Sonne schien. Es war so schön“, dabei öffnete sie an ihrem Kleid einen seitlichen Reißverschluß, „ich möchte das auch mal erleben, bitte tu es für mich.“ Und sie läßt das Kleid fallen und steht vollständig nackt vor mir, geht zum Bett und legt sich darauf. Ich bin unsicher, fühle mich übertölpelt, geehrt, herausgefordert, setze mich neben sie ans Bett um einen Kontakt herzustellen lege ich meine Hand auf ihren Bauch. Sie rührt sich nicht, schaut mich unverwandt an.
„Zieh dich aus“, fordert sie mich auf, „damit es genauso wird“. Sie holt tief Luft:

„Ich habe das immer und immer wieder geträumt und dann sah ich Dich vorhin am Schreibtisch sitzen und dachte jetzt oder nie“. Während ich mich ausziehe redet sie weiter:
„Mein Mann kann das nicht, er kann vieles, aber das nicht“. Ich setze mich neben sie, lege meine Hand wieder auf ihren Bauch, sie hält ganz still. Sie hat eine helle Haut, dann streichle ich ihren großen festen Busen, die kleinen Brustwarzen werden ganz fest. Ich schaue auf ihre geschlossenen Augen, auf den ruhigen Atem, auf die Sonne über ihren Schultern. Es berührt mich nicht. Ich kann es nicht. Es geht einfach nicht. Ich könnte sofort mit ihr schlafen, aber diese Zärtlichkeit, das Küssen und Schweben, das kann ich nur mit Isa. Sie öffnet ihre Augen und ich sehe darin ihre Frage, warum geht es nicht weiter, warum geht es nicht los? Sie nimmt meine Hand und legt sie zwischen ihre Beine. Ich ziehe sie langsam weg und stehe auf. Erst schaut sie mich erstaunt, dann böse an, zieht ihr Kleid über, nimmt die Schuhe und geht ohne sich umzuschauen hinaus. Ich bin erleichtert und über mich erstaunt. Wieder ein neuer Aspekt zu: was ist Liebe? Sex geht immer, aber sinnlich schwebende Zärtlichkeit kann ich nur geben, wenn ich liebe. Ich setze mich wieder an meinen Schreibtisch, aber es wollen keine Gedanken entstehen. Ich fühle mich einfach nicht wohl. Am nächsten Tag begegne ich ihr noch einmal. Sie geht an der Seite ihres Mannes und sie schieben gemeinsam den Kinderwagen. Diesmal schaut sie mich nicht an, aber ihr Mann blickt böse zu mir her. Auf meinen Hundespaziergängen geht es mir immer wieder durch den Kopf. Mit Isa kann ich nicht darüber gemeinsam nachdenken, sie ist schon eifersüchtig, wenn ich nur freundlich und nett bin und vermutet sofort, ich würde flirten. Mit Ingo spreche ich im Brazil darüber. Erst muß er laut lachen:
„Das ist doch ganz einfach, du bist verliebt“, und dann mit einer frisch angezündeten Gauloises im Mund beginnt er zu dozieren und schimpfen:
„Ganz früher, als Urmenschen hatten wir so eine Art Gruppenehe, die Kinder wurden gemeinsam aufgezogen. Dann, z.B.: im Römischen Reich wurde die Ehe festgeschrieben, schon wegen der Erbschaften. Man wollte sein Hab und Gut nicht an ein Kuckuckskind vererben. Dabei hatten die Römer mit ihrem Ehepartner nur zum Zeugen der Kinder Sex, ansonsten hielten sie sich jeweils für die Lust Sklaven und Konkubinen“, und jetzt wird er richtig laut:
„Aber so richtig übertrieben mit der Pflicht zur Treue haben es die Pfaffen und das ganze Kirchengesindel. Die sprachen die Ehe heilig und das Fremdgehen wurde eine schwere Sünde. Den Pfaffen zum Trotz etablierten sich dann Badehäuser als Orte der gemeinsamen Lust.“ Als er einen tiefen Schluck aus seinem Bier nimmt, hake ich ein:
„Das mit den Pfaffen, da hast du Recht, darauf will ich jetzt nicht hinaus. Du kennst meine grundlegende Frage, wieweit sind wir Säugetiere und wieweit Mensch? Wir als Säugetiere, uns ist die Fortpflanzung neben der Selbsterhaltung der stärkste Trieb. Deswegen steuert uns das Testosteron, ohne das wir es richtig wahrnehmen, also, ohne daß wir merken, wie es uns steuert. Es ist eine ständige Jagt. Ich habe mal von einem alten Mann sagen hören, er empfindet das Nachlassen des Testosterons als Erleichterung, endlich Frieden und nicht mehr jagen müssen. An mir ist mir das auch aufgefallen. Oft flirte ich, obwohl ich das überhaupt nicht wollte. Zu Isa bin ich auf dieser Hormonebene sehr stark verbunden. Wenn ich träume, dann von ihr. Aber“, und da muß ich auch erst einen Schluck von meinem Kaffee trinken, „aber wir sind auf einer höheren Ebene zusätzlich verbunden. Wir haben einen Seelenkontakt und wir empfinden uns als WIR.“ Auch wenn ich mit anderen flirte, sogar Sex habe, so ist doch mein Band zu Isa nie unterbrochen oder in Gefahr zu zerreißen. Das ist das gewisse Etwas, was den Unterschied macht von mir als Säugetier zu mir als Mensch.“ Ingo lacht laut und herzlich los:
„Wenn du mal unter der Erde bist, dann sollte man auf deinen Grabstein schreiben: ‚Hier ruht der Einstein der Philosophen‘“. Da muß ich mitlachen und antworte ihm:
„Mir fällt ein, ich bin in Jena im Philosophenweg geboren. Die Philosophie ist mir in die Wiege gelegt worden.“ Aber Ingo geht darauf nicht ein, sondern doziert weiter:
„Eifersucht ist doch nur die Angst vor dem Verlust des Partners und vielleicht hast du Recht: wir unterscheiden uns von den Tieren, weil bei uns der Zusammenhalt nicht nur hormonell und genetisch gesteuert ist, sondern eine bewußte Willensbekundung im Kopf stattfindet.“ Hier unterbreche ich ihn:
„Deshalb empfinden wir: Seelen gehören zusammen.“ Ingo nickt zustimmend holt Luft und redet weiter:
„Unser Biologielehrer in der elften Klasse hat gesagt, als er über Darwin sprach: ‚die Entwicklung geht nicht zu mehr Intelligenz, sondern zu mehr Anpassungsfähigkeit!‘ Und dann hat er immer schmunzelnd hinzugefügt:
„Deshalb ist die Paarweise Brutpflege von Vorteil, aber trotzdem für die Art von Vorteil seine Gene weit zu streuen, also Fremd zu gehen.“ Bevor Ingo noch weiter ins Dozieren kommt unterbreche ich ihn mit einer albernen Idee:
„Ich habe zwar kein bayerisches Abitur aber auch auf der POS-Schule hatten wir das Thema. Da hatte doch Darwin so einen Kumpel, der immer wußte, welche Farbe die Kälber haben. Ich glaube der hieß Gregor Mendel. Er konnte auch sagen, warum ein Kind braune Augen hat, wenn die Eltern beide blaue Augen haben“, und jetzt muß ich lachen, „wenn jemand Gene von treuen Eltern hat, bleibt er dann treu? Und wenn ein Elternteil untreu ist, wird er dann halbtreu? Aber was ist, wenn das Kind gestreifte Augen hat? Welche Augenfarbe hatten die Eltern?“ Jetzt lacht auch Ingo:
„Ach, was für ein Blödsinn.“
Aber du mit deiner Idee, daß wir vielmehr Säugetier sind, als wir von uns denken zum Beispiel der Reflex, daß wir zu attraktiven Frauen hinschauen müssen, uns umdrehen, der ist so schnell, den kann man nicht unterdrücken. Dabei lächelt er der Kellnerin, die ihm gerade ein neues Bier bringt, freundlich zu. Mir fällt das auf und bringt mich auf den Gedanken: Wie sieht das erste Flirtsignal aus ? Von wem geht es aus? Ist es vom Mann die Anmache, oder ein subtiler Blick, eine Bewegung, eine Geste von der Frau? Frauen machen sich schick weil sie sich selbst gut fühlen wollen aber auch als Darstellung nach außen. Und bei Männern überlege ich weiter? Das Aussehen ist es weniger, viele Männer brauchen ein Auto zur Selbstdarstellung. Ich will den Gedanken nicht verlieren, suche in meinen Taschen nach einem Zettel, finde nichts und nehme eine Serviette und schreibe mir auf: Stammen unsere Eitelkeiten, wie unterschiedlich sie auch sind, alle aus unserem Säugetiersein? Nicht nur die Schulterklappen und Litzen der Soldaten, sondern auch Schminke und Schmuck der Frauen, bis hin zur Affektiertheit mancher Männer (Goldkettchenträger) und ihrem auf das Auto verlagerten Imponiergehabe. Wenn es nicht dem Flirtsystem dient, wozu dann? Falte meine Serviette zusammen und stecke sie ein. Ingo hat mir zugeschaut.
„Was schreibst du da?“ Ich habe mir Gedanken gemacht, woher Eitelkeiten stammen. Schon Früh- und Urmenschen haben sich geschmückt. „Ich möchte da mal etwas darüber schreiben.“ Ach was Eitelkeiten, schau uns an: Wir sind einfach nur einfach angezogen. T-Shirt, Jeans, Schuhe. Und wir sehen auch nicht chic aus. Jetzt schaue ich an mir herab. Damit hat er recht. Ist mir nie aufgefallen, aber habe auch nie einen Gedanken daran verschwendet, wie ich aussehe. Ich habe noch nie bei meiner Kleidung darüber nachgedacht, ob ich damit gut aussehe, sondern nur, ob sie mir gefällt und bequem ist. Aber da fällt mir ein, meine Levis Jeans, die wollte ich unbedingt haben. Ich hole meine Serviette wieder aus der Tasche und schreibe dazu:
„Meine echte Levis, warum?“ Ich falte sie wieder zusammen und nehme mir vor, ab jetzt immer ein Notizbüchlein bei mir zu haben. Ich trinke meinen Kaffee aus, klopfe zum Abschied auf den Tisch, gehe zum Tresen zahlen. Wie ich wieder an Ingo vorbei komme, hält er mich auf:
„Laß uns zusammen etwas dazu schreiben. Einen Film über Taxifahrer, die sich verlieben und da bringen wir das alles hinein.“ Ich klopfe ihm im Gehen zustimmend auf die Schulter. Meine Nacht auf der Zwo-sieben ist ruhig, ich habe das Erlebnis mit der Nachbarin völlig vergessen, erst als ich mich zu Isa unter die Bettdecke an sie anschmiege fällt es mir wieder ein. Sex, denke ich im Einschlafen, hat etwas mit dem alten Stammhirn zu tun und Zärtlichkeit ist jünger, ist mehr, ist Liebe. Und bei den Eitelkeiten bin ich froh, daß Isa sich nicht schminkt. Ich lege meinen Arm um sie und ziehe sie dichter an mich heran. Ich schlafe über dem Gedanken ein: wenn mir das alles bewußt ist, kann ich es schaffen und es besser machen, als meine Altvorderen.