Das verflixt schöne Leben


Ingo


In meiner Abwesenheit ist unsere Studentenbude mehr zu Isas Bude geworden. In den Jaffakisten liegen ihre Bücher, an der Wand hängt, zusammengebunden mit einem Bindfaden, neben dem Plakat ihrer Schwabinger Aufführung, der vertrocknete Rosenstrauß, den ich ihr zur Premiere überreicht hatte. Oben in der Küche auf der dicken Glasplatte, neben den Töpfen, liegt immer noch ihr BH. Den hatte ich ihr mal morgens, als sie sich anzog um zur Uni zu gehen, abgenommen. Es war so ein dicker ausstaffierter mit Drahtbögen verstärkter BH. Ihre Tante in Bonn hatte ihr gesagt, sie müsse den anziehen und etwas hineinstopfen, damit sie Busen hätte. Aber Isas Busen war vollendet wunderschön zart und klein und auf dem linken Busen hatte sie einem Leberfleck. Ich habe ihr gesagt, sie solle doch nichts ausstopfen, sondern sich freuen, daß sie so eine wunderschöne Figur habe. Ihr Busen würde, wenn er reden könnte, bestimmt dagegen protestieren ausgestopft zu werden. Sie lächelte, gab mir den BH, den ich da ganz oben ablegte, wir lachten und sie zog ihr Männerhemd ohne den BH darunter an. Seitdem trug sie keinen BH mehr. Mir fehlte Isa. Mit meiner Minolta hatte ich viele Bilder von ihr geknipst. Es war schon ein ganzer Stoß zusammen gekommen. In allen Lebenslagen. Ich habe sie einfach, so wie ich sie auch immer mit meinen Händen berührt habe, mit meiner Kamera berührt. Da unterscheiden wir Männer uns von den Frauen. Die Art zu sehen und zu Begehren ist grundverschieden. Wir sind gefesselt von der körperlichen Ausstrahlung, für uns ein wichtiger Aspekt erotischer Anziehung. Wir sehen auch den weiblichen Körper an sich, als etwas einfach Wunderschönes. In Nürnberg im Bahnhofsviertel, sah ich eine Peepshow. Man ging in eine kleine Kabine, warf eine Mark ein, eine Klappe öffnete sich und man konnte auf einer sich drehenden Scheibe, eine nackte Frau betrachten. Ich habe nie davon gehört oder es gesehen, daß es so etwas auch für Frauen, die Männer betrachten möchten, gibt. Offensichtlich gibt es dafür keinen Bedarf. Auch Isa hatte keinerlei Neugier oder Interesse an meinem Körper. Für mich ist das körperliche Begehren Teil meiner Liebe. Aber für Isa ist es offensichtlich anders. Sie nimmt mich als Beschützer wahr, schmiegt sich nachts an mich, nutzt meinen Arm und Schulter als Kopfkissen. Das Reden darüber hat zwischen uns zu Verstimmungen geführt. Es sind die vielen kleinen fast zufälligen Berührungen, die sich ergeben, wenn man sich liebt und so zusammenlebt. Ob beim aneinander Vorbeigehen in der Küche, auf der Treppe, im Auto. Es gibt unendlich viele Gelegenheiten, sich liebevoll zu berühren oder … wie auch immer! Es ist auch das sich gegenseitig Streicheln, sowie ich es von früher mit Renate kannte. Ich streichele Isa oft und ausgiebig, weil es mir eine Freude, ein Bedürfnis ist und ich in ihrer Nähe nicht anders kann, als sie liebevoll zu berühren. Ich fragte Isa, warum Berührungen bei uns eine Einbahnstraße seien? Ihre Antwort: ich würde es nur nicht wahrnehmen, sei durch meine Armeezeit und den Knast verhärtet und abgestumpft. Ich war unsicher, ob Isa Recht hatte und ich es einfach nicht spürte bzw. bemerkte und wurde deshalb besonders aufmerksam, wie ein, auf die kleinste Berührung reagierender Seismograph. In der Anfangszeit in Erlangen hatte ich auf einer Fête, eine kurze und heftige nächtliche Begegnung mit Eike, einer zierlich schlanken Frau mit Kurzhaarhaarschnitt. Sie studiert Jura und sagte, als wir uns wieder anzogen, ich würde viel Zärtlichkeit benötigen. Das hatte ich oft im Hinterkopf, wenn ich über mich nachdachte. Stimmt etwas mit mir nicht? Es klopft an der Tür. Es ist Angela, die neue Mieterin aus der Wohnung unter uns. Gestern war sie schon kurz oben, um sich Nudeln auszuleihen. Sie gehört auch zu unserer Seminargruppe um Holger, der nach der Arbeit an dem mißlungenen Theaterstück an der Probebühne, zu einem kleinen Freundeskreis geworden ist. Wir wollen weiter Theater machen.
„Wir wollen uns zusammen einen Telefonanschluß bestellen. Der Apparat kommt draußen auf dem Flur auf die Kommode im ersten Stock.“, sagt sie und drückt mir ein Prospekt der Post in die Hand.
„Komm doch erst mal herein“, sage ich zu ihr. Sie redet im Laufen weiter:
„Der Anschluß kostet 20 DM Grundgebühr im Monat und wenn wir pro Monat etwas drauf zahlen bekommen wir eine Gebührenzähler und ein Verlängerungskabel dazu, dann kann man das Telefon auch mal mit in die Wohnung nehmen.“ Wir setzen uns, ich deute auf meine Kaffeekanne:
„Möchtest du eine Tasse?“
„Nein danke“, lehnt sie ab, „Die Grundgebühr teilen wir uns und für die Einheiten legen wir eine Liste an, da trägt sich jeder ein, der telefoniert hat.“ Das finde ich gut. Immer die Lauferei zur Telefonzelle und so könnte man uns sogar anrufen. Ich gebe ihr das Prospekt zurück an bestätige:
„Okay, ich bin dafür ich mache mit.“
Sie lächelt, steht auf und sagt im Hinausgehen:
„Da gehe ich gleich die Anderen fragen.“
Es ist zwar viel zu früh, um zum Schichtwechsel zu gehen, aber bei dem Gedanken an ein leckeres Stück Quarkkuchen, läuft mir sofort das Wasser im Mund zusammen und ich mache mich auf meine Socken. Schneidend kalte Luft, Schneereste auf dem Trottoir, ich schlage den Kragen an meiner Jacke hoch und gehe schneller. Im Brazil ist im Winter hinter der Eingangstür ein großer brauner Filzvorhang, als Windfang angebracht. Als ich hindurch bin, riecht es lecker nach Kaffee. Ingo sitzt in seiner Lieblingsecke. Vor ihm stehen noch die Reste seines Bogart-Frühstücks. Einen Kaffee, ein Croissant und dazu eine blaue Gauloises. Obwohl alle Studenten normalerweise in Jeans mit Hemd oder T-Shirt herumlaufen trägt er ein Jackett. Seitdem er Taxi fährt hat er eine Batschkappen, wie er sie nennt, seine Schiebermütze auf dem Kopf. Er wartet auf die Eins-neun. Tagsüber fährt sein Chef Fernando selbst. Fernando, eine Seele von Mensch, Anfang 50ig und vor vielen Jahren aus Italien zugewandert, spricht fließend deutsch, mit einem kleinen verbliebenen italienischen Akzent. Genaues weiß ich nicht, aber er hat wohl erst Jura, dann Theaterwissenschaft studiert, sich dann ein Taxi mit Lizenz gekauft und ist damit vom Fahrer zum Unternehmer geworden. Das Studium hat er an den Nagel gehängt. Ich setze mich zu Ingo an den Tisch, bestelle im Vorbeigehen am Tresen Kaffee und Quarkkuchen und nehme mir das Erlanger Tageblatt mit. Bei einer Unterhaltung mit Ingo landet man über kurz oder lang immer beim Thema Film. Ingo blättert in der Kinoanzeige von Nürnberg und sagt:
„Übermorgen läuft ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘, Sergio Leone“, und demonstriert seine Kennerschaft, indem er mir auch sofort dazu den englischen Titel:
„Once Upon a Time in the West“, nennt. Dann erklärt er mir:
„Der Film wurde nicht auf die Musik geschnitten, sondern die Musik wurde für den Film durchkomponiert. Eine besondere Zusammenarbeit von Sergio Leone mit Ennio Morricone. Einzigartig!“ Dann zieht er lange an seiner Gauloises und sagt andächtig:
„Dieser Film wird, je öfter man ihn anschaut, immer schöner. Er ist ein epochales Meisterwerk.“ Wir haben öfter darüber gesprochen, daß wir unterschiedliche Sicht auf die Dinge haben, weil wir von unterschiedlichen Positionen auf den Stacheldraht geschaut haben. Wir haben auch unterschiedliche Sichten, weil wir durch unsere Eltern mit anderen Dingen aufgewachsen waren. Ich hatte ihm erzählt, wie mir meine Eltern, die Literatur, und durch den vielen Westbesuch geschmuggelte, sogar die verbotene Literatur, zugänglich gemacht haben.
„Aber aber aber!“, sagt Ingo, „Es ist ein riesiger Unterschied, ob du das Leben und die Welt selbst eroberst oder ob du eine Auswahl durch Eltern und Verwandtschaft gezeigt bekommst.“ In dem Augenblick tritt Fernando durch den Windfang hindurch, sieht uns und kommt heran, klopft zur Begrüßung mit dem Knöchel auf den Tisch, um Ingo in seiner Rede nicht zu unterbrechen und setzt sich. Ingo läßt sich nicht unterbrechen und fährt fort:
„Du kennst bestimmt beim Genre ‚Western‘ nur aus dem Fernsehen ‚Bonanza‘ mit Vater und Söhnen Cartwright. Daß es solche Meisterwerke wie: ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ gibt, ist deinen Eltern nicht bekannt gewesen und deine Westverwandtschaft hat sich dafür nie interessiert. Somit ist dir das einfach entgangen. Das werden wir umgehend nachholen.“ Er schaut zu Fernando und spricht weiter:
„Jetzt zwischen den Jahren ist nicht viel los, wenn du“ und er blickt Fernando direkt an, „morgen etwas länger fährst, fahren wir nach Nürnberg und gehen ins Kino und danach erst Taxi.“ Fernando schmunzelt:
„Das machen wir anders, ich komme auch mit!“ Zwischen Ingo und Fernando ist eine besondere Beziehung. Vielleicht ist Fernando für Ingo so etwas wie ein Vaterersatz für seinen früh verstorbenen Vater. Sie beide verbindet auch die Begeisterung für Film und Video. Fernando besitzt eine eigene Profi-16 mm Filmkamera. Ingo darf sie mitbenutzen, aber eigentlich hat er sie immer. Fernando weiß sie in guten Händen, bleibt mehr der Gönner im Hintergrund. Mit dieser Kamera drehte Ingo einen Musikfilm über die Erlanger Punkgruppe: „The Sucides“, mit ihrem Lied „Mich packt der Wahn“. Ingos reine Lehre vom Schnitt: Rhythmus der Bilder im Rhythmus der Musik. Als er mir diesen Film vorführte, wurde mir klar, er sieht, besser, er hört Filme. Musik und Schnitt, als Teil der Botschaft und klar, daß ihm Sergej Eisensteins Lokomotiven, anders als mir, besonders ins Auge fallen mußte. Ich vermute das Kulturereignis, was er mir jetzt mit Sergio Leone und Ennio Morricone zugänglich macht, ist von gleicher Wichtigkeit, wie Sergej Eisenstein für den Filmschnitt. Draußen hupt die Zwo-sieben und wir stehen auf, legen unsere Zeche auf den Tisch, klopfen zum Abschied mit dem Knöchel. Fernando bekommt einen Schoppen Roten, die Bedienung steckt das Geld ein und wünscht uns beim Hinausgehen:
„Guten Umsatz!“