Das verflixt schöne Leben


23 Damaskus

Paul Gerhardts Lied: „O Haupt voll Blut und Wunden“, es war fester Bestandteil der Karfreitags­gottesdienste meines Vaters. Der Text übt keine Wirkung aus, aber die getragene tief traurige Melodie, löst unmittelbar das Gefühl von Trauer und Wehmut aus.
Mendelssohns Italienische Sinfonie dagegen, macht sofort fröhlich. Das war unser Gesprächs­thema gestern Nacht, als wir auf ein Bier in die Freiburg gingen. Ich hatte von meiner Fahrt nach Volos erzählt und da wir viel über Inszenierungen reden habe ich Leibniz erwähnt und seine These vom unbewußten Wahrnehmen. Und daß wir Musik gezielt in Inszenierungen ein­bauen müßten.
Ich stehe früh auf und bereite Isa einen griechischen Kaffee zu. Sie freut sich sehr über das Mitbringsel.
Ich habe Post vom Amt, bald ist Wohnungsbesichtigung. Isa freut sich mit mir, ist es doch meine erste richtig eigene Wohnung.
Dann der gewohnte Trott. Sie sitzt an ihrer Magisterarbeit über polnisches Theater; ich fahre abends die Zwo-sieben und gehe Nachmittags ab und zu in die Uni. Das Projekt: „Gründung einer Theatergruppe“ nimmt Gestalt an. Der Kern der Truppe besteht aus Isa und mir, alle anderen freuen sich mitzumachen. Ingo mit seinem Chef, Angela aus der Wohnung unter uns und drei weitere Studenten aus der Theaterwissenschaft. Nach ein paar Tagen melden sich noch zwei Studenten, die mit an der Studiobühne gearbeitet hatten. Von Isas Eltern kommt die Nachricht, die Züchterin hat sich gemeldet, wann wir den Dackel abholen. Als ich aus Volos zurückkam und Sabah anrief, hatte er mir gesagt, ich solle doch einfach Freitags anrufen, ich wäre sicher bei der nächsten Tour nach Volos und weiter auf die Fähre nach Tartous und von dort bis Damaskus, dabei.
Es vergeht noch eine Woche, noch einmal Freitag bei Herrn Sabah anrufen, dann geht es los. Isa darf mit, er zahlt den Platz auf der Fähre aber ihren Heimflug müssen wir selber zahlen. Als sie es ihren Eltern erzählt herrscht helle Aufregung, da sei zu gefährlich. Ich kann sie beruhigen, wir sind ja in einer Kolonne, in einer Gruppe zusammen und kommen danach auch zu Besuch, den Welpen abzuholen.

Wieder geht es den schon bekannten Weg, leider wieder ein LKW ohne Schlafkabine und er ist sehr laut, der Motor dröhnt. Als wir Belgrad passieren, erzähle ich Isa, hier war das Ziel meiner Flucht und warum man die westdeutsche Botschaft erreichen mußte und erst dann sicher war, da die jugoslawische Polizei mich zurück nach Ostdeutschland geschickt hätte. Nur diese Botschaft durfte, alle anderen westdeutschen Botschaften im Ostblock durften das nicht, ostdeutschen Flüchtlingen eine westdeutschen Paß ausstellen.
An der griechischen Grenze machten wir Photos von den paradierenden Soldaten, trinken auch den mit Zucker in der Kanne aufgekochten griechischen Kaffee und fahren als Sammelkolonne weiter nach Volos. In Volos Ankunft im Fährhafen, wir stellen die Fahrzeuge aber nicht ab, sondern verbleiben und warten. Fred fährt mit einem Taxi los und organisiert uns etwas zu Essen. In der Mitte des Platzes, auf dem locker 100 LKWs Platz hätten, steht eine kleine Holzbude mit einem europäischen Klo, einem arabischen und daneben ein kleiner Raum mit einer Dusche, in der nur kaltes Wasser kommt. Wir duschen alle nacheinander und als Isa duschen geht, stelle ich mich vor der Tür auf, damit sie nicht gestört wird. Der Platz füllt sich immer mehr mit LKWs und einigen unvorstellbar hoch überladen PKWs. Viele haben Zoll­kennzeichen, aber auch Kennzeichen aus ganz Westeuropa. Es wird Nacht und noch ist keine Fähre zu sehen. Abreise sollte morgen früh sein. Ich bin sehr müde vom Fahren und lege mich längs auf meine Sitze. Nach einiger Zeit legt sich Isa zu mir. Lautes klirren von Ketten weckt uns. Es ist noch dunkel, riesige Peitschenlampen von der Seite des Platzes beleuchten ihn. Die Fähre ist angekommen und hat schon rückwärts am Pier festgemacht. Ihre Heckklappe wird heruntergelassen, daher das Gerassel der Ketten. Kaum ist die Klappe ganz am Boden, fahren schon in schneller Folge die Fahrzeuge heraus. Ohne große Pause, beginnt das Beladen. Alle PKWs zuerst, und müssen in der Fähre auf ein oberes Deck hochfahren. Dann kommen die LKWs. Alle müssen rückwärts in die Fähre einfahren. Erst die Sattelschlepper, bei denen ist es noch einfach, ein Matrose hilft beim Orientieren und weist sie ein. Dann kommen die LKWs mit Anhänger. Ich weiß aus meiner Zeit beim Kraftverkehr Eisenach, daß das rückwärts rangieren mit einem zwei-achsigen Anhänger viel Übung braucht, weil man ständig bei der Lenkrichtung umdenken muß. Ich bewundere die Geschicklichkeit der Fahrer. Manche schaffen es ganz ohne Rücksetzer in einem Rutsch in die Fähre einzufahren. Dann sind wir dran. Fred organisiert, daß wir alle hintereinander einfahren und wir gemeinsam hoch zum Passagierdeck gehen.

Isa und ich bekommen eine innenliegende kleine Kabine mit einem Doppel­stockbett und einer eigenen Dusche mit Klo. Es ist frisch geputzt und riecht sehr stark nach Desinfektionsmittel. Wir machen schnell eine Katzenwäsche und steigen dann, um noch den Rest der Verladung anzuschauen, hoch zum Oberdeck. Ein toller Ausblick. Hinten am Horizont als Silhouette die Berge, der weite Hafen und drumherum die Lichter der Stadt. Noch ist der Platz halbvoll mit Fahrzeugen und unter uns verschwinden sie nacheinander. Wenn die Heckklappe der Fähre am Beton des Piers scheuert, weil eine Welle aus dem Meer oder die Last eines beladenen LKWs, das Schiff bewegt, gibt es eigenartige, metallisch kratzende Geräusche aus dem Bauch des Schiffes. Ans Geländer gelehnt spüre ich eine ganz leichte Vibration. Es sind wohl die Motoren der Fähre, die auch im Hafen nicht abgestellt werden.

Als der Platz leer ist, die Heckklappe sich schließt und die Leinen gelöst werden, legen wir ab. Es wird hell, die Sonne geht hinter den Bergen auf, noch ist sie nicht zu sehen. Wir sind müde und gehen zurück zur Kabine und legen uns auf’s Bett. Gegen neun soll die Kombüse geöffnet werden, so hatte uns Fred informiert. Essen sei frei und komplett im Fährpreis enthalten. Wir haben Hunger und sind pünktlich zum Frühstück da. Eine Reihe von LKW Fahrer steht schon an. Ein wildes Durcheinander von Nationalitäten. Schon die unterschiedlichen Schuhe, da sind einige mit zerschlissenen Sandalen und barfuß andere haben fest Arbeitsschuhe und sogar zwei Männer im Anzug mit echten Budapester Schuhen. Das Gros der Fahrer trägt Turnschuhe Jeans und T-Shirt darüber eine Mischung aus Weste und Blouson. Sogar Fahrer mit einem zu einem Turban um den Kopf gewundene Tuch sind dabei. Das Angebot an der Selbst­bedienungstheke ist einfach. Ein großer Topf mit Hühnersuppe, daneben ein riesiges Blech mit Rührei, aber ganz ohne Speck oder Schinken drin und ein Stapel Fladenbrot. Ganz am Ende steht ein Korb voll Apfelsinen und daneben, noch an der Staude dran, Bananen. An einem Seitentisch finden wir auch Tee und Kaffee in großen Thermoskannen. Wir vergammeln die Zeit, legen uns auf einen der vielen Liegestühle oder stehen an der Reling und schauen in die Gischt am Heck der Fähre. Wir haben das Gefühle, wir seien auf einer Kreuzfahrt. Auf dem Oberdeck am Fuße der Brücke ist ein windgeschützer Bereich. Hier stehen ein paar Bänke und es sitzen einige Fahrer zusammen. Zwischen ihnen in der Mitte eine Wasserpfeife. Vom Geruch her würde ich sagen, da ist mehr drin, als nur Tabak. Wir sehen Fred, er winkt uns, doch neben ihm Platz zu nehmen. „Das ist hier Tradition“, klärt er uns auf, „zusammen Wasserpfeife rauchen und still in der Sonne zu sitzen.“ Ich lehne sein Angebot ab, mit zu rauchen. Das ist mir zu unbekannt, zu ungeheuer. Auch Isa lehnt ab. Wir verbringen den Tag auf der vorderen Seite vor der Brücke und ruhen ab oder lesen die in der Kombüse ausgelegten alten bis uralten Zeitungen aus aller Herren Länder. Das Abendessen wird serviert. Unsere Gruppe, wir sitzen zusammen an einem großen runden Tisch. Fred informiert wieder: „Morgen ist hier neben dem Aufgang zum Oberdeck, an dem kleinen Raum mit dem Schiebefenster, die Paßkontrolle.“ Abends sitzen wir wieder alle zusammen an der Rückseite der Brücke. Die Gespräche drehen sich um deutsche Autos, wie man selbst und mit welchen Mitteln, Autos kaufen, überführen und verkaufen könnte. Zu viel Papierkram vor allem bei der Einfuhr sagt Fred. Deshalb ist das Geschäft auch fest in arabischer Hand. Wie bei unserem Herrn Sabah, der das Geschäft zusammen mit seinem Bruder in Damaskus betreibt. Wir stehen nach einer Weile auf und gehen wieder auf das Vorderdeck, stellen zwei Bänke nebeneinander, nehmen uns aus einer Kiste daneben zwei Rettungswesten als Kopfkissen, legen uns auf die Bänke und schauen in den Himmel. „Dein Vater hat keine gute Meinung über mich. Er traut mir nicht zu, daß ich Dich beschützen kann.“ frage ich Isa bzw. stelle ich fest. „Ich vermute, das ist eine grundlegende Sorge, die alle Eltern um ihre Kinder haben.“ antwortet sie mir. Durch das Strahlen des Firmaments, die Erlebnisse der Reise, die sachte Bewegung der See, in mir steigt eine Erinnerung auf. Ein Unfall mit einem Motorroller. In unsere Stille hinein, erzähle ich von meinem Erlebnis, bei dem ich die Angst, die mein Vater um mich hatte, in seinen Augen, seinem Gesicht sehen konnte. „Es war eine bedrückende Fahrt. Er hatte sich von einem Amtskollegen einen Motorroller ausgeliehen, weil unser Wartburg in der Werkstatt war. Damit fuhren wir von Eisenach nach Mühlhausen in die Klapper, wie sie allgemein hieß. Es war das psychiatrische Landeskrankenhaus und meine Mutter war dort für mehrere Wochen aufgenommen, weil sie einen ihrer Schübe hatte, bei denen sie wirres Zeug redete, im Nacht­hemd auf die Straße lief und behauptete mein Vater sei der Teufel. Ich durfte mitfahren, sie besuchen, weil ich es war, der sie in diesem Zustand auf dem Ehrensteig, wie unsere Straße hieß, eingefangen und nach Hause geschleppt hatte, bis endlich mein Vater kam und den Arzt rief. Der Besuch war gespenstisch. Meine Mutter saß in einem grauen Einzelzimmer auf einem Stuhl neben ihrem Bett und wippte ständig auf und nieder und zupfte dazu ohne Pause an einem nicht existierenden Bart. Sie schaute uns böse an. „Ich bin nicht krank, ich will hier raus.“ Das wiederholte sie ständig. Als mein Vater mal hinausging, um mit den Ärzten zu sprechen, hielt meine Mutter mein Hand­gelenk umklammert: „Du mußt mich hier herausholen!“ Ich konnte mich nicht aus dem Griff befreien und war dankbar, als mein Vater zurückkam, meine Mutter mich freigab und wir heimfuhren. Auf der Rückfahrt, ich saß hinter meinem Vater auf dem Motorroller, hielt mich fest, indem ich beide Arme um seinen Bauch legte und weil es angefangen hatte zu nieseln, hielt ich meinen Kopf hinter seinen Rücken im Windschatten. Auf einmal schlingerte und stürzte der Motorroller. Dabei schlitterte er, auf der Seite liegend quer über die Straße. Ich hatte den Halt verloren und rutschte über die feuchte Straße auf die andere Seite und blieb dann von der Bordsteinkante des Trottoirs aufgehalten, am Rand liegen. Der Motorroller war in die Straßen­bahnschienen gekommen. Ich sah ganz genau, meinen Vater in Panik von der anderen Straßenseite auf mich zukommen und mich aufheben. Als er sah, mir war nichts passiert, bekam er wieder normale Gesichtszüge. Dem Motorroller war auch nichts passiert. Die vorne als Windschutz angebrachten Kniebleche waren etwas verschrammt. Ich kann das Gesicht nicht beschreiben. Es war nicht verzerrt, sondern zeigte ein besonders intensives Erschrecken, Angst und Panik. Wir fuhren nach kurzer Zeit weiter, auch um den Verkehr nicht aufzuhalten. „Das ist die immerwährende Angst um die Kinder, die bei Gefahr zur Panik wird. Ist es das, was Du meintest?“ schließe ich meinen Bericht ab.

Isa drückt meine Hand. Wir liegen lange still nebeneinander. Dann gehen wir und legen uns in die Koje. Es ist dunkel, nur ein kleines Notlicht über der Tür leuchtet schwach, als Isa leise erzählt: „Bei Kummer, Sorgen, Problemen, die über das normale hinausgingen, wenn es vorher Streit gab, hat sich meine Mutter in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen und wir konnten nicht zu ihr“. Isa setzt sich halb auf und redet weiter: „Sie hat uns den Zugang zu ihrer Nähe verwehrt. Hat uns Kinder wegge­stoßen.“ Sie legt sich wieder auf meine Schulter: „erst am nächsten Morgen, da war alles wieder normal, als ob nichts gewesen wäre, gab es Frühstück und Pausenbrote für die Schule.“ Nach einiger Zeit, ihr Atem ist ruhig und gleichmäßig geworden. Sie ist eingeschlafen. Spüre ich, es ist eine andere Nähe entstanden. Ich bin erschrocken, was da in mir aufgestiegen ist und warum ich das auf einmal erzählen mußte. Ich habe das Gefühl, wir sind wie zwei ver­letzte Hunde, die sich gegenseitig die Wunden lecken. Darüber schlafe ich ein.
Nach dem Frühstück holte uns Fred zur Paßkontrolle ab. Unsere Ankunft sei gegen Mittag in Tartous. Wir setzen uns zu den anderen an die Brücke und trinken aus der großen Kanne Tee. Er ist sehr süß und es schwimmt viele Minze darin. Oft höre ich das russische Wort „Tschai“ für Tee und überlege, vielleicht ist es ja nicht ein russisches, sondern ein arabisches Wort, was von den Russen, wie das Alphabet, übernommen wurde? Dann legen wir an. Packen unsere Sachen und verstauen sie im LKW. Sabahs Bruder kommt an Bord und begrüßt uns. Er sieht Isa, die zwar in Jeans, Männerhemd neutral gekleidet ist, aber an ihrem Lockenkopf doch als Frau zu erkennen. Er bitte sie mit ihm zu kommen und sicherheitshalber in seinem PKW zu warten, bis wir alle aus der Fähre herausgekommen sind. Ich stehe noch eine Weile ganz oben am Heck an der Reling und schaue hinab auf das Treiben. Ein wildes Durcheinander und dazwischen die ausfahrenden Fahrzeuge. Alles sehr staubig, ein paar Palmen am Rande des Platzes. Sabahs Bruder hat wie sein Bruder auch einen dieser Angeber Mercedes. Seiner ist in weiß mit goldenen Felgen. Ich sehe Isa einsteigen. Dann geht es sehr schnell, Fred ruft, ich muß zum LKW. Der ist noch mit zwei Eisenketten, die überkreuz an der Achse fest waren, am Boden verankert. Ein Matrose löst die Schellen, ich räume die Ketten zur Seite und kann losfahren. Draußen ist es sehr heiß. Das war auf dem Oberdeck nicht zu spüren. Dann sind wir alle draußen, es geht los, Isa ist wieder bei mir, Sabahs Bruder führt die Kolonne an, wir verlassen den Hafen, fahren an ein paar Hallen vorbei, passieren eine halbverfallene Tankstelle und landen auf einer Landstraße, die im großen Bogen um die Stadt führt. Ich kann wenig erkennen, ein paar große Häuser, alles einförmige Quader, wenig Grün, staubige zersauste Palmen und dann eine hügelige Schotterlandschaft. Sabahs Bruder ist davongedüst. Wir sind ihm zu langsam. Fred hat die Führung übernommen. Straßenschilder gibt es keine. Wir folgen der breitesten Straße. Dann mal am Straßenrand ein Kilometerstein: „Homs 50 KM“. Auch von Homs sehen wir nichts, fahren an der Stadt vorbei. Die Landstraße wird vierspurig. Fred hält in der wüstenähnlichen Landschaft neben einer kleinen Hütte. „Das ist eine Toilette“ sagt er. „Benutzung nur auf eigenen Gefahr“ und lacht dabei. Ich werfe einen Blick hinein. Der Raum ist zwei mal zwei Meter groß und gegenüber dem Eingang ist ein Loch in der Erde. Der Weg dorthin ist nicht möglich. Wir entscheiden uns für Pinkelpause am Hinterrad und Isa hinter der Hütte. Dann geht es weiter.
Die Straße ist gut asphaltiert und fast Schnur geradeaus noch 200 Km bis zum Ziel. Ich frage Isa: „Möchtest Du mal fahren?“ „und wie soll das gehen?“, fragt sie zurück. „Komm her und setze Dich vor mich hin und übernimm das Lenkrad. Ich bleibe hinter Dir sitzen, Du lenkst und ich gebe Gas.“ Sie rutscht sofort zu mir herüber, setzt sich zwischen meine Beine und ich sehe, welch große Freude ihr das Fahren breitet. Nach einer Weile übernimmt sie auch das Gas­pedal. Ich spüre ihren Rücken fest an meinem Bauch und lege meine Arme um sie. Es ist wunderbar warm und innig, ganz anders, als es sonst ist. Mich durchflutet ein Gefühl von Fürsorge, Verantwortung und beschützen! So richtig verstehe ich es nicht. Es ist kein Ergebnis von Denken, sondern eben in mir entstanden, aus der Nähe, dem Fühlen und irgendetwas Unbekanntem in mir.

Fürsorge und Verantwortung, geht es mir durch den Kopf, ist auch nur ein Gefühl, eine Aufgabe, die uns der Urschleim für das Überleben unserer Art, als eine notwendige Eigenschaft, mitgegeben hat. Wir interpretieren es, als ob es eine Empfindung unserer hohen Ethik sei, dabei empfindet es jedes Tier für seine Nachkommen und jeder Rudelführer für seine Rudel. Wieder schießt mir der Gedanke durch den Kopf, wir sollten in der Schule eine Unterrichtsfach haben, indem wir lernen, was an uns alles Reflexe unseres Säugetierseins sind und wie damit umzugehen sei.
Kurz vor Damaskus übernehme ich wieder das Lenkrad. Es geht durch den Stadtverkehr: kleine Esel, völlig überladen mit Krimskrams, ein Fahrrad, auf dem Gepäckträger übermannshoch gestapelte Fladenbrote, ein paar Kamele latschen mit ihrem breiten Füßen am Rand und wieder fast keine Verkehrsschilder. In einer Einbahnstraße kommt uns sogar ein Bus entgegen und wir müssen umständlich zur Seite rangieren. Dann kommen wir am Zollplatz an, auf dem wir die Fahrzeuge abstellen. Sabahs Bruder ist bereits da. Wir werden herzlich begrüßt, können unsere Sachen zusammen suchen und werden in ein großes hohes viereckiges Zelt eingeladen. Das Zelt hat am Boden Teppiche und einige Kissen liegen in der Mitte im Kreis um einen niedrigen Tisch. Wir werden aufgefordert uns zu setzen. Bekommen Tee, wieder mit Minze und auf dem Tisch wird eine große Schale mit Salat hingestellt. Sabahs Bruder zeigt uns, wie wir uns bedienen können, indem er vom Fladenbrot ein Stück abreißt, es zu einer kleinen Tüte dreht und mit dieser durch den stark mit Öl durchtränkten Salat fährt. Es schmeckt einfach wunderbar. Woraus der Salat besteht, kann ich nicht sagen. Zuviel mir Unbekanntes ist enthalten.
Ein kleiner VW-Bus bringt uns in die Innenstadt von Damaskus. Staubige Straßen, viel Müll, chaotischer Verkehr. Es ist alles sehr laut. „Damaskus ist über 5000 Jahre alt.“ erklärt Fred unterwegs. Zu sehen ist von Altertümern nichts. Graue gleichförmige Betonfassaden. Die Häuser zwei- manchmal dreistöckig. Dann unsere Unterkunft. Wieder eine einfache Pension mit einem Reisebüro in direkter Nähe. Fred ruft uns zusammen: „Im Empfangsraum der Pension ist ein Treffen.“ Sabahs Bruder ist da und zahlt uns unseren Lohn aus und bucht für uns das Heimflugticket nach München. Ich zahle von meinem Lohn Isas Ticket. Dann ziehen wir alle los in die Innenstadt. Fred ist unser Fremdenführer. Wir laufen durch enge Gassen und kommen auf einen kleinen Markt. Die Wege zwischen den Buden sind eng und nach oben durch Planen gegen die Sonne abgeschirmt. Große Türme von geschachtelt aufgebauten Gewürzen, riesige Bleche mit Kuchen. Fred erklärt das sei Honigkuchen. Wir kaufen uns bei den fliegende Händlern frischgepressten Orangensaft. Sein Duft allein und dann der Geschmack ist um Potenzen intensiver, als das was ich als Orangensaft kenne. Fred kauft von dem Händler, der seinen Honigkuchen auf dem Kopf balanciert, für uns je ein Stück Kuchen. Als er bezahlen will und wir uns umdrehen, ist Isa verschwunden. Ein paar Meter weiter hinter uns sehen wir, wie zwei Männer sie unter der Achsel gegriffen hatten und wegschleppen. Mit drei riesigen Sprüngen sind wir durch das Menschengewirr neben Isa und stoßen die Männer weg. Isa ist noch völlig verdutzt und hat nicht so ganz verstanden, was passiert war. Um ein Haar wäre sie in irgendwelchen Haarems für immer verschwunden. Wir nehmen Isa von nun an in unsere Mitte und lassen sie nicht mehr aus den Augen. Im Basar, wie Fred das Markttreiben nennt, gibt es nicht nur Gewürze, Kuchen, Früchte auch Handwerker, Pelz- und Teppich­händler, Schuhe, Sandalen, Krimskrams, Schmuck und immer wieder diesen leckeren Honigkuchen. Beim Hinein­beißen läuft mir der Honig an der Seite heraus, so saftig ist er – köstlich!! Das ist Orient. Abends in der Pension stelle ich fest, mein Portemonnaie ist weg. Wir wollten eigentlich den Flug verschieben und ein paar Tage dranhängen und müssen nun mit den anderen am nächsten Morgen heimfliegen. Von Fred müssen wir uns Geld leihen, damit wir das Frühstück und die Pension zahlen können. Er ist erst skeptisch, ob er es zurück­bekommt, aber als ich ihm verspreche, es innerhalb einer Woche bei Sabah in Nürnberg abzugeben, gibt er uns auch gleich soviel, damit wir in München die Fahrkarte nach Erlangen bezahlen können.

München: Es ist kalt, regnet, wir fahren mit der S-Bahn zur Innenstadt und mit der U-Bahn zur Theresienhöhe, besuchen meine Großmutter. Sie ist erstaunt uns zu sehen, lächelt dann, als sie unsere staubigen Sachen sieht und zeigt nur auf ihre Badezimmertür, damit wir uns erst einmal waschen können. Es ist eine Wohltat und es gibt frischen Kaffee. Wir erzählen von unserem Abenteuer. Großmutter ist entsetzt von der Gefahr, der wir uns ausgesetzt haben. Dann räumen wir den Tisch ab und brechen auf. Abends sind wir in Erlangen, rufen aus der Telephonzelle Isas Eltern an, berichten von unserer heilen Heimkehr und daß wir bald kommen, den Dackelwelpen abzuholen. Frühmorgens ein Frühstück in Damaskus, Nachmittags Kaffee in München und Abends Bratkartoffeln mit Currywurst in der Freiburg. Welch ein Tag!